Auszug aus Romanprojekt

In addition to the empirical and rational examination, I enjoy contemplating and discussing matters of human decision making, (ir)rational behavior and uncertainty artistically. Here is an excerpt from a novel project (German) that I have been working on for quite some time.

Am Holocaust-Mahnmal angekommen, kniff ich die Augen zusammen und ließ den Blick über das Stelenfeld schweifen, dessen Kontraste das schräg einfallende Sonnenlicht schärfer als sonst zeichnete. Als Kind hatte ich mir immer vorgestellt, wie es wäre, nur 10 Zentimeter groß zu sein und zwischen den riesigen Blöcken dahin zu wandern, wie ein Tourist durch die Straßenschluchten Manhattans. Heute, da ich, wenn auch kein Begreifen, so doch einen Begriff von dem Elend hatte, das sie bezeichneten, kam mir der Gedanke sehr bedrückend vor. Einige Meter von mir entfernt, nutzten ein paar Kinder die Blöcke für ein Versteckspiel. Ein hippes junges Pärchen, circa mein Alter, störte sich offensichtlich daran und unterbrach die Selfie-Session, um die Kinder zurecht zu weisen. Auch meine Schwester und ich hatten beim ersten Mal, als wir das Mahnmal besuchten, ein Spiel erfunden, „Wetten ich weiß wo…“, wir waren losgegangen und hatten so oft die Richtung gewechselt, dass wir irgendwann nicht mehr wussten, aus welcher Richtung wir losgegangen waren. Dann hatten wir angehalten und jeder von uns musste tippen, wo wir herauskämen, wenn wir die Nächste rechts und dann einfach immer geradeaus gingen. Irgendwann waren wir dann auf die unscheinbare Treppe hinab zu dem Raum unter dem Mahnmal gestoßen. Natürlich hatte mein Vater uns erklärt, was es mit dem Mahnmal auf sich hatte, trotzdem waren wir absolut unvorbereitet auf die Bilder – wobei darauf wohl niemand wirklich vorbereitet sein kann. Ich war damals 13, meine Schwester 11, und ich erinnere mich noch genau an die unterdrückte Wut in der Stimme meiner Mutter, durch die Küchentür nur unzureichend gedämpft, als meine Eltern sich am Abend darauf in der Küche stritten, während meine Schwester und ich auf der Couch im Wohnzimmer saßen und „Willis Quiz Quark Club“ guckten und ich, trotz Versicherung meiner Mutter, den Eindruck nicht loswurde, etwas Falsches getan zu haben. Heute denke ich, es ist in Ordnung, wenn Kinder dort verstecken spielen. Vielleicht ist es sogar besser, wenn sie den Ort zunächst intuitiv entdecken bevor sie von der Hand eines Erwachsenen an den Abgrund herangeführt werden.

Gedankenverloren kramte ich noch einmal meine Kopfhörer aus der Tasche, bließ kurz kräftig in den Anschluss am Handy, um es von Fusseln zu befreien und stöpselte sie ein, der linke ziemlich lose, da ich ja den Aufsatz verloren hatte. Dann ging ich los, den von meinem dreizehnjährigen Ich aufgestellten Regeln folgend, mitten hinein in das Labyrinth. Nach circa zwanzig Metern nahm ich die erste Abzweigung links, ging vier Blöcke weit gerade aus und dann, am bisher größten Block, auf den ich getroffen war und auf dem einige dunkle, unscharfe Flecken die Stellen markierten, an denen man Graffitis entfernt hatte, drehte ich, die rechte Hand an den kalten Quader gelegt, einige Runden, bis ich vergessen hatte, von wo ich gekommen war. Obwohl er mich weit überragte, ging von dem Block nichts Kolossales aus, er ließ eher die Schultern hängen, wie er da so stand, in anthrazytenem Einvernehmen mit seinen Nachbarn, nicht um Geltung bemüht, gleich geltend, aber doch nicht gleichgültig. Zum Klang von Brad Mehldau’s organisiert ekstatischem „Spiral“ begann ich meine Irrfahrt. Ich lief schnell, den Blick leicht gesenkt auf den Boden, der das Mahnmal in engem Maschenraster um ein tausendfaches vervielfacht spiegelte. Immer dann, wenn in der Musik ein Atmosphärenwechsel stattfand, ein lautes Aufbäumen des Saxophons, ein Abgleiten des Songs in eine stillere, lauernde Phase oder eine harmonische Modulation, machte ich auf dem Absatz kehrt und wechselte die Richtung – mal nach rechts mal nach links. Bald schon synchronisierten sich muskulärer Impuls und musikalische Intuition und ich bewegte mich wie ferngesteuert – Marionette der Musik, die schwingenden Saiten des Bösendorfers als Kuppelstange meiner Extremitäten, beschleunigt und gebremst nur durch die Pedale desselben. Streifen einfallenden Lichts fielen auf mein Gesicht, wo düstere Kadenzen sich in Wohlgefallen auflösten. Personen traten aus den Schatten der Blöcke in die schmalen Gänge, dort wo sich neue Motive anbahnten, liefen ein Stück parallel zu mir, um sich dann kontrapunktisch zu entziehen. Als schließlich die letzten 16tel der Melodie wie Kohlensäurebläschen an die Oberfläche perlten, spülte mich das schäumende Crescendo des Crashbeckens aus einem besonders dunklen Kanal des Labyrinths heraus. Ich schaute mich um und stellte fest, dass ich an der Behrenstraße Ecke Cora-Berliner-Straße herausgekommen war – ziemlich genau auf der entgegengesetzten Ecke des Platzes, mit der ich gerechnet hatte. Da ich meine Playlist mit dem Ende des Songs pausiert hatte, ich die Kopfhörer (mehr schlecht als recht) jedoch noch im Ohr hatte, hörte ich nicht viel von dem, was um mich herum geschah.

Ob meine übrigen Sinne durch diesen Reizentzug besonders geschärft waren oder meine „Irrfahrt“ mich für derlei Empfindungen besonders empfänglich gemacht hatte - plötzlich kribbelte es mich im Nacken und ich hatte das flüchtige, aber intensive Gefühl, beobachtet zu werden. Ich ließ den Blick über die Fassade des mir gegenüberliegenden Gebäudes schweifen und tatsächlich – im zweiten Stockwerk des Doppelstadts, über dem Hintereingang, der sich deutlich unauffäliger gab als sein großer Bruder an der Vorderseite des Gebäudes, nahm ich in einem der Fenster einen dunklen Umriss wahr - in Schatten gekleidet und unbewegt wie eine Schaufensterpuppe. Wer auch immer da oben aus dem Fenster sah, mochte natürlich alles Mögliche beobachten – die Stafette von Krähen, die heiser krächzend über das Mahnmal flog oder die einzelne kleine Wolke, die sich heimlich und unbemerkt vor die Sonne geschoben hatte und so dem satten Sommertag für einen Moment die Farben stahl. Trotzdem war mir intuitiv bewusst, dass diese Aufmerksamkeit ungeteilt mir galt. Es war, als grübe sich der Blick durch den Tag an mich heran, knapp unter der Oberfläche, auf der unbedarfte Passanten unmerklich innezuhalten schienen, als spürten sie den Bordstein unter ihren Füßen zittern, eine wandernde, kaum wahrnehmbare Wölbung der Pflastersteine, dort, wo der teuflische Tubulus zielstrebig an mich herankroch. Wer auch immer mich da beobachtete, war sich eindeutig auch meiner Aufmerksamkeit bewusst, zog sie bewusst an sich. Mich überkam ein unangenehm fallendes Gefühl im Magen. Im nächsten Moment riss am Himmel über mir die Wolke auf und die Sonne warf in horus-äugigem Augenaufschlag ihren Glanz in das Fenster. Licht flutete die Scheibe, blendete den bösen Blick und nahm auch mir die Sicht. Neben mir sprang eine Ampel auf Grün und es piep-piep-piepte.

Das banale Geräusch holte mich zurück aus der sonderbaren Verschränkung. Ich blickte auf und, wie von unsichtbarer Hand eingesammelt und hier wieder abgesetzt, rannte mich doch tatsächlich dieselbe Horde chinesischer Touristen noch einmal über den Haufen. Einer von ihnen, ein kleiner Mann mit rundem Gesicht, der eher koreanisch als chinesisch aussah, zückte seine Kamera und schoss ein Foto. Zurück in China, würden sich seine Kinder wahrscheinlich über meinen Kopf am unteren Bildrand amüsieren – perplex im Spiegelreflex. Ich blickte noch einmal hoch zum Fenster, doch es war leer, zwischen den Gardinen regte sich nichts.